Fängt man an, sich über das Bachelorstudium an nordamerikanischen Hochschulen zu informieren, stößt man immer wieder auf den Begriff liberal arts education. In Bezug auf das Ingenieurstudium betont z.B. die Princeton University:
Engineering at Princeton is taught within the context of a liberal arts approach to education.
Auch die weit weniger elitäre Florida State University weist darauf hin, dass es in den ersten beiden Studienjahren vor allem um „work in a broad-based liberal arts curriculum“ gehe. An der Rodman School of Commerce der kanadischen University of Toronto wird Wert darauf gelegt, dass sich die dort angebotenen BWL-Studiengänge seit jeher nicht nur mit Wirtschaftsfragen beschäftigt haben:
Despite their focus on commerce, these programs all maintained a strong emphasis on the liberal arts, which the the current BCom program continues to retain.
Mit den sogenannten „Liberal Arts Colleges“ gibt es in den USA sogar einige Hundert teilweise äußerst renommierte Hochschulen, bei denen dieses Konzept Programm ist. Wer das Wesen des Bachelorstudiums (College) in Nordamerika verstehen will, muss folglich den Liberal-Arts-Ansatz verstehen.
Unpraktische und praktische Fächer
Welche Bedeutung steckt dahinter? Das Wort „arts“ lässt vermuten, dass es etwas mit Kunst zu tun haben könnte, aber ein Blick auf die Beispielsätze macht schnell klar, dass das nicht stimmen kann. Oder müssen angehende Ingenieure an Princeton sich auch künstlerisch betätigen? Nein, müssen sie nicht. Die Sache wird klarer, wenn man weiß, dass es vollständig „liberal arts and sciences“ heißt. Und damit sind die klassischen Grundlagenfächer in den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften gemeint, also z.B. Literatur, Sprachen, Anthropologie, Geschichte, Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Mathematik, Physik, Biologie oder Chemie. Das sind alles Studienfächer, bei denen es nicht um eine unmittelbare Anwendbarkeit oder einen direkten Nutzen des Wissens geht.
Wer ein solches Fach studiert, ist nicht in erster Linie an Nützlichkeit interessiert, sondern daran, sich komplexes Wissen zu erarbeiten, Neues zu entdecken, Theorien zu entwickeln, systematisch zu denken, kritische Fragen zu stellen – kurz gesagt: sich intellektuell weiterzuentwickeln. Daher auch die Bezeichnung „liberal“: Es sind Fächer, die das Denken und damit auch die Persönlichkeit „befreien“. Nicht zu den liberal arts gehören folglich die eher technisch-anwendungsorientierten, nützlichen Studienfächer wie z.B. Medizin, Jura, Pharmazie, Ingenieurswesen, Betriebswirtschaft, Pädagogik, Journalistik, Bildende Künste oder Design. Hier geht es vor allem um Kenntnisse und Kompetenzen, die für eine bestimmte berufliche Praxis relevant sind.
Breite Bildung statt Berufsqualifizierung
Das Besondere am Bachelorstudium in Nordamerika ist nun, dass alle Studierenden unabhängig von ihrem angestrebten Hauptfach einige Lehrveranstaltungen in den liberal arts belegen müssen. Das ist gemeint, wenn es wie oben zitiert bei Princeton heißt, das Ingenieurstudium finde im Kontext eines „liberal arts approach to education“ statt. Im Klartext heißt das, dass auch die Studierenden in den technischen Fächern mindestens sieben Lehrveranstaltungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften besuchen müssen. Auch die anderen Zitate sind nun verständlich: An der kanadischen Rodman School z.B. beschäftigen sich die BWLer nicht nur mit Rechnungswesen, Marketing oder Unternehmensführung, sondern auch mit Literatur, Geschichte und Politik. Dahinter steht die Idee, dass auch Ingenieure, Manager, Ärzte und Immobilienmakler sich im Studium mal mit grundsätzlichen kulturellen, gesellschaftlichen oder naturwissenschaftlichen Fragen beschäftigt haben sollten.
Auf Deutsch könnte man liberal arts education also am besten mit „Studium Generale“, „akademischer Allgemeinbildung“ oder „humanistischer Bildung“ übersetzen. Umfang und Inhalt variieren von Hochschule zu Hochschule, aber das Grundprinzip findet sich überall wieder: Zu einem guten Studium gehört nach nordamerikanischer Auffassung nicht nur die Vermittlung von praxisrelevantem Fachwissen, sondern auch die Persönlichkeitsbildung durch die Beschäftigung mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, Problemen und Methoden – insbesondere während der ersten beiden Studienjahre. Am Ende des Bachelorstudiums stehen dann im Idealfall „well-rounded persons“ – keine Spezialisten. Dieser Gedanke ist tief in der DNA des Hochschulwelt in Nordamerika verankert, in den USA noch einmal stärker als in Kanada. Wer also ein reines Fachstudium anstrebt, sollte lieber in Europa bleiben oder erst für den Master nach Nordamerika gehen.
Wozu braucht man das?
Natürlich ist dieser Ansatz auch in den USA nicht unumstritten. Kritiker führen an, dass Hochschulen heute in der Pflicht stehen, ihren Studierenden praxisnahe, berufsrelevante Kenntnisse zu vermitteln, damit die Absolventen auf dem harten Arbeitsmarkt bestehen können. Kant und Hegel zu lesen, sei da eher nicht zielführend. Befürworter der liberal arts education hingegen argumentieren, dass gerade ein breit angelegtes Bachelorstudium die optimale Vorbereitung für eine sich stetig wandelnde Arbeitswelt sei, denn die dadurch erworbenen Fähigkeiten – z.B. über den Tellerrand eigener Interessen hinaus zu schauen, sich unter hohem zeitlichen Druck neue Wissensgebiete zu erschließen, Fakten zu recherchieren, klar zu argumentieren und Ansichten abzuwägen – seien später für jede Art beruflicher Tätigkeit entscheidend.
Die größten Anhänger der Liberal Arts-Philosophie finden sich an den Hochschulen mit dem höchsten Prestige, also den privaten Forschungsuniversitäten und kleinen, hochselektiven Colleges. Diese bereiten ihre Studierenden nämlich explizit nicht auf bestimmte berufliche Tätigkeiten vor. Darum werden anwendungsorientierte Fächer wie BWL oder Maschinenbau an den Elitehochschulen oft gar nicht als Bachelorfach angeboten, sondern erst im Masterstudium. Nicht zufällig habe ich daher die beste Beschreibung der Liberal Arts-Philosophie auf der Website von Yale gefunden:
Yale is committed to the idea of a liberal arts education through which students think and learn across disciplines, literally liberating or freeing the mind to its fullest potential. The essence of such an education is not what you study but the result – gaining the ability to think critically and independently and to write, reason, and communicate clearly – the foundation for all professions.
Die führenden amerikanischen Universitäten sagen also: Es ist nicht so wichtig, welches Fach du im Bachelorstudium studierst – es kommt auf die Fähigkeiten an, die du dabei entwickelst.
Rückimport nach Europa
Obwohl die Idee der „artes liberales“ ursprünglich aus Europa stammt, ist sie aus den Lehrplänen der Universitäten hierzulande weitgehend verschwunden. Durch die Bologna-Reformen wurden die Studieninhalte sogar noch spezialisierter und durchstrukturierter. Dass das Ideal eines breiten, nicht unmittelbar zweckgebundenen „Lernens um des Lernens willen“ ausgerechnet in den USA hochgehalten wird – wo angeblich nur zählt, was sich in Geld und Gewinnen ausdrücken lässt – ist eine feine Ironie. Und ein wichtiger Grund, sich für ein Bachelorstudium in Nordamerika zu entscheiden – insbesondere für diejenigen, die noch unschlüssig sind, wohin die akademische und berufliche Reise nach dem Abitur gehen soll, die neugierig und vielseitig interessiert sind, die experimentieren möchten anstatt sich frühzeitig festzulegen.
Doch auch in Europa gibt es eine Rückbesinnung auf die Liberal Arts. Mit explizitem Bezug auf die nordamerikanischen Vorbilder haben in den letzten Jahren etliche Universitäten in den Niederlanden und Großbritannien sogenannte University Colleges mit Liberal Arts-Studiengängen eingerichtet, in denen es nicht um ein enges Fachstudium, sondern um interdisziplinäre und problemorientierte Fragestellungen geht. Pionier in Deutschland ist die Universität Freiburg mit ihrem University College und dem 2012 eingeführten vierjährigen Bachelor in Liberal Arts and Sciences. Außerdem unterhalten einige amerikanische Colleges einen Zweigcampus in Europa, wo diese Philosophie verfolgt wird. In meiner unmittelbaren Nachbarschaft in Berlin zum Beispiel das ehemalige European College of Liberal Arts, das heute Bard College Berlin – A Liberal Arts University heißt und zum Bard College in Upstate New York gehört.